Vom Zauber der Verwilderung - entdecke deinen inneren Wildfang wieder!

Vom Zauber der Verwilderung - entdecke deinen inneren Wildfang wieder!

Vielen von uns müssen weit reisen, bis sie echte Wildnis zu Gesicht bekommen können. Aber auch, wenn du beim Blick aus dem Fenster vor allem Asphalt, Beton und Stahl siehst, kannst du deinen inneren Wildfang umarmen und dich in der Natur wohlfühlen. Stevan von der Wildnisschule Heidelberg hat ein paar einfache Übungen parat, die dafür sorgen, dass du dich draußen zu Hause fühlst.

Die sanfte Morgendämmerung hüllt mich und die Hügel rund um die spanische Stadt Teruel in ein goldenes Licht. Ich habe den Tag in aller Frühe mit einer Qigong-Session begonnen. Erfüllt von innerer Ruhe und tiefer Zufriedenheit lasse ich meinen Blick in die Weite schweifen, als ich eine Bewegung aus meinem Augenwinkel wahrnehme. Ich lasse meinen Blick der Neugierde folgen und erspähe einen Fuchs. Er kommt direkt hinter den Bäumen hervor und bleibt einen Moment regungslos stehen, als er mich entdeckt. Er hat mich im Visier und beobachtet mich, doch irgendetwas muss ihm signalisieren, dass von mir keine Gefahr ausgeht. Er setzt sich hin, ohne dabei den Blick von mir zu wenden. Seine goldenen Augen lassen erahnen, welche tiefen Geheimnisse dahinter verborgen liegen - tiefgründig, rätselhaft und weise. Und so schauen wir uns beide eine Weile an, bis der Fuchs sich erhebt, umdreht und auf gleichem Wege wieder zwischen den Bäumen abtaucht.

Wildnisschule Heidelberg

© Wildnisschule Heidelberg

Dies ist genau die Art von Erlebnissen in der Natur, die sich Stevan Bonitz für die Menschen erhofft, die seine Wildniserfahrungskurse in Heidelberg besuchen. Stevan, 36, hat 2016 die Wildnisschule Heidelberg gegründet. Sein begehrter Kurs "Step into the Wild" hilft den Teilnehmer*innen dabei, sich in der Natur wohlzufühlen. Das klingt zunächst einmal sehr simpel, es ist allerdings ein Gefühl, welches der heutigen Generation immer mehr verloren geht.

Studien aus den USA und Großbritannien zeigen, dass wir heutzutage etwa 90 Prozent unserer Zeit in geschlossenen Räumen verbringen. Kinder spielen heute nur noch halb so viel draußen wie ihre Eltern in ihrem Alter. Eine Untersuchung ergab, dass Kinder in den USA etwa 7,5 Stunden pro Tag vor Bildschirmen verbringen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich die Indoor-Generation im Freien nicht auf Anhieb wohlfühlt.

Für Stevan geht es bei seiner Arbeit darum, diesen Trend umzukehren. "Der erste Schritt ist, nachts gemeinsam um ein Lagerfeuer zu sitzen und umgeben von Natur zu schlafen", sagt er. "Für viele ist es das erste Mal. Ihre Sinneswahrnehmung beginnt sofort, sich zu verbessern. Draußen im Wald gibt uns die Natur eine Menge Input. Unser Körper und unser Gehirn nehmen diese Informationen auf und beginnen, präsenter zu werden."

Stevan, Gründer der Wildnisschule Heidelberg

© Wildnisschule Heidelberg

Stevan begann seine Ausbildung 2013 bei Wolfgang Peham, dem Leiter von Wildniswissen, Deutschlands ältester Wildnisschule. Davor hat Stevan als Jugendbetreuer gearbeitet und war oftmals unzufrieden, weil er nicht die erhofften Ergebnisse erzielte. Ihm fehlten Begegnungen mit der Natur und er begann, Ansätze zu verfolgen, die unsere Beziehung zur Natur als Basis betrachten und den Kindern und Jugendlichen Halt bieten können.

Bei seiner Recherche stieß er auf bekannte Wildnisbewusstseinsschulen in den USA, die ihn wiederum zu Wolfgang Peham führten, der dort ausgebildet wurde. "Wenn du nicht mit der Natur verbunden bist, fehlt dir etwas in deinem Leben“, sagt Stevan. "Dieses Defizit macht dein Leben, deinen Geist und deinen Körper krank."

Es gibt aber gute Nachrichten: Mit ein wenig Hingabe lässt sich die Verbindung zur Natur wiederherstellen, schließlich sind wir ein Teil der Natur. Um die Wiedereingliederung zu erleichtern, führt Stevan die Teilnehmer*innen durch 13 Kernroutinen. Jede davon erfordert Zeit und mehrfache Wiederholung.

Hier stellt Stevan sechs Übungen vor, die jede*r auf eigene Faust ausprobieren kann.

Stevan, Gründer der Wildnisschule Heidelberg

Deinen Sitzplatz finden (täglich)

Diese Routine ist die erste und wichtigste von allen. Wenn du nur eine Übung umsetzt, dann diese. Wähle einen Platz in der Natur, an dem keine oder nur wenige Menschen sind. Besuche diesen Ort täglich, egal bei welchem Wetter. Setze dich für 10, 15 oder 30 Minuten an diesen Ort. Dabei ist es wichtiger, regelmäßig für kürzere Zeit dort zu verweilen, als einmalig für besonders lange Zeit. Reduziere alle Hürden, die dich von deiner täglichen Routine abhalten könnten. Wähle eine überschaubare Zeitspanne, die sich leicht in deinen Alltag integrieren lässt. Wähle einen Spot in deiner Nähe, um ihn schnell erreichen zu können. Es kann dein eigener Garten sein oder der Park um die Ecke.

Lass dein Telefon zu Hause und beobachte die Stille um dich herum. Öffne dich der Welt um dich herum. "Behalte einen Weitwinkelblick, anstatt dich auf eine Sache zu konzentrieren", sagt Stevan. "Beobachte alles, was um dich herum passiert. Was kannst du sehen, riechen und hören?“

Kreative Fragen stellen (alle zwei Wochen)

Suche dir einen Baum in der Natur, der dich irgendwie anspricht. Stelle oder setze dich für ein paar Minuten vor seinen Stamm und sauge seine Präsenz auf. Beginne dann, dem Baum Fragen zu stellen. In seinen Kursen leitet Stevan diese Übung und fordert die Teilnehmer*innen auf, 100 Fragen zu stellen. "Es geht darum, dass wir anfangen, über den Tellerrand zu schauen", erklärt er. "Es fordert unsere Denkroutine heraus und hilft den Teilnehmer*innen, wieder neugierig zu werden." Fragen könnten zum Beispiel sein: Lieber Baum, wie tief sind deine Wurzeln? Warum ist deine Rinde so rau? Was könnte ich sehen, wenn ich auf dich klettern würde?

Frei wandern (alle zwei Wochen)

Dies ist die zweitwichtigste Kernübung, bei der es darum geht, die bekannten Pfade zu verlassen. Dafür braucht es zwei bis drei Stunden Zeit. Gehe in einen Wald, verlasse den vorgegeben Weg und wandere drauflos. Es muss gar nicht weit sein. Stevan empfiehlt, sein Bauchgefühl zu befragen, in welche Richtung man gehen soll. "Wenn du den Weg verlässt, lässt du deine Routine und gewohnten Muster hinter dir", sagt Stevan. "Gehe unvoreingenommen umher, frei von To-do-Listen oder Erwartungen. Du wirst eine Menge entdecken." Zur Sicherheit solltest du jedoch einen vertrauten Ort wählen und jemandem sagen, wohin du gehst.

Stevan, Gründer der Wildnisschule Heidelberg

© Wildnisschule Heidelberg

Karten zeichnen (alle zwei Wochen)

Wie gut kennst du deine Umgebung wirklich? In dieser Übung geht es darum, eine gute Ortskenntnis zu entwickeln. Fang klein mit einem Block und Stift an und skizziere eine Karte der Gegend um deinen Sitzplatz herum. Gibt es einen Bach? Dann zeichne ihn ein, wie er sich über das Land bewegt. Gibt es einen Hügel oder eine Anhöhe? Zeichne sie ein. Füge Sträucher, Bäume, den Fundort von Früchten, Kräutern oder Beeren hinzu. Erweitere deine Karte nach und nach, bis sie ein Gebiet von vielen Quadratkilometern umfasst. "Wenn man das über eine sehr lange Zeit macht, kennt man seine eigene Umgebung wirklich", sagt Stevan.

Deine Blumen kennenlernen (alle zwei Wochen)

Gehe spazieren und suche dir eine Blume zum Erkunden. Mach dir in deinem neuen Blumentagebuch Notizen über ihre Umgebung. Wächst sie in weicher Erde oder in einem sandigen Boden? Gibt es Wasser in der Nähe? Notiere so viele Informationen, wie du kannst. Wähle die Blume aus, setze dich und versuche sie so gut es geht aus deinem Gedächtnis zu zeichnen. Schaue die Blume dafür 15 Sekunden lang an, dann lege sie aus deinem Sichtfeld und zeichne auf, woran du dich erinnern kannst. Wiederhole dies fünf Mal. "Die Verbesserung ist unglaublich", sagt Stevan. "Die letzte Zeichnung hat eine Menge Details." Zurück zu Hause, schaue in einem Botanikbuch oder im Internet nach, um die Blume zu identifizieren und etwas über sie zu lernen.

Unter den Sternen schlafen (monatlich)

Wenn du einen eigenen Garten hast, kannst du diese Übung hier machen. Ansonsten suchst du dir einen Platz im Wald zum Biwakieren. Nimm für die erste Übernachtung alles mit, was du brauchst, um dich sicher und geborgen zu fühlen und eine gute Nacht draußen zu verbringen. Dein Telefon, Buch oder E-Reader sollten allerdings zu Hause bleiben. Mach es dir gemütlich und lass deine Sinne die Nacht inhalieren. Gehe beim nächsten Mal wieder an die gleiche Stelle zurück und lerne den Ort noch besser kennen. Für eine zusätzliche Herausforderung: Nimm bei jeder Übernachtung unter freiem Himmel einen Gegenstand weniger mit. Du kannst zum Beispiel ein Tarp anstatt des Zeltes mitnehmen. Und beim übernächsten Mal kannst du auch das Tarp zu Hause lassen. Wenn das Wetter es zulässt, kannst du auch deinen Schlafsack zu Hause lassen. Wieviel brauchst du wirklich?

Stevan, Gründer der Wildnisschule Heidelberg

Den Wildfang in dir entdecken

Stevan sagt, dass wir unseren inneren Wildfang herauskitzeln, wenn wir diese sechs Kernroutinen regelmäßig durchführen. Was bedeutet das genau? Durch diese gezielten Übungen können wir unsere angeborene kindliche Neugier und unser Staunen für die Welt um uns herum wiederentdecken. Diese steckt immer in uns, sie wird nur zumeist unterdrückt – von unserem Lebensmittelpunkt zwischen vier Wänden, unseren Gewohnheitsmustern und einem überhöhtem Maß an Kontrolle.

Damit die Verwilderung zum Erfolg führt, ist es wichtig, dass du die Übungen deinen Lebensumständen anpasst. Mach sie nicht zu einem weiteren Punkt auf deiner To-do-Liste, die dich unter Druck setzt. Wenn du in die Natur trittst, sei entspannt, ausgeglichen und im Hier und Jetzt. Wer weiß, welchem magischen Geschöpf du begegnest?

Dieser Artikel stammt aus dem CAMPZ Magazin Herbst / Winter 2021.
Text: Joshua Gale

Logo der Wildnisschule Heidelberg

Über die Wildnisschule Heidelberg

Die Wildnisschule Heidelberg versucht, die Natur für uns alle wieder neu erfahrbar zu machen. Ein bisschen Neugierde reicht, um an einem der zahlreichen Workshops teilnehmen zu können. Du brauchst garantiert keine Survivalausrüstung, um deine Sinne und deine Wahrnehmung wieder etwas näher an die Natur heranzuführen.

Mehr Infos unter wildnisschuleheidelberg.de

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